Wie behandelt man Kinder, deren Seelen verletzt sind, weil sie missbraucht, misshandelt oder schwer vernachlässigt wurden? Einige waren zur Tatzeit so jung, dass sie sich nicht mehr daran erinnern können – sehr frühe Traumata haben jedoch oftmals besonders schwere und lebenslange Auswirkungen.
Bei Ankerland finden traumatisierte Kinder den Weg zurück ins Leben. Dr. Andreas Krüger ist ein Pionier in der Traumatherapie und hat im Jahr 2008 dieses einzigartiges Hilfsangebot in Hamburg gegründet. Das tagesklinikähnliche Angebot vereint Psychotherapie, Kunst-, Musik- und Körpertherapie. Hier erfahren die Kinder Ruhe, Sicherheit und Stabilität, oftmals zum ersten Mal in ihrem Leben.
Die von der TRIBUTE TO BAMBI Stiftung geförderte Musiktherapie eröffnet einen geschützten Raum, in dem Kinder sich ausdrücken können – auch ohne Worte. Es werden anteilig Kosten für Miet- und Personalkosten in Höhe von fast 50.000 Euro übernommen. Außerdem informiert der Verein Ratsuchende, berät Betroffene und ihr Umfeld und leistet bundesweit Aufklärungsarbeit.
Der Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Gewalt geht uns alle an! Schaut genauer hin, hört zu und handelt, ehe etwas passiert. Sexuelle, psychische oder körperliche Gewalt passiert nicht im Verborgenen – sie passiert in unserem Alltag, jeden Tag.
Wir danken dem FOCUS Magazin und Redakteurin Petra Hollweg für den Artikel über Ankerland, den wir hier veröffentlichen dürfen.
FOCUS Magazin, 7. November 2025
Als Kinder- und Jugendpsychiater Andreas Krüger den knapp fünfjährigen Tim (Name von der Redaktion geändert) kennenlernte, gab der Kleine ein „trauriges Bild“ ab. „Das Kerlchen“, wie Krüger ihn liebevoll tituliert, zeigte schwerste psychische Auffälligkeiten: Tagsüber gebärdete Tim sich oft wütend und aggressiv, fand im Kindergarten zu anderen keinen Kontakt. Nachts kamen die Ängste. Mit Wucht. Stunde um Stunde quälte sich der Junge in den Schlaf, um kurz darauf von Albträumen hochzuschrecken. Immer wieder nässte Tim sich ein, auch den Stuhlgang hatte er nicht unter Kontrolle.
„Das Leben hat es nicht gut gemeint“, sagt man floskelhaft. Auf Tim trifft das aber irgendwie zu. Nur wenige Stunden alt, musste der Neugeborene von seiner psychisch schwer kranken Mutter getrennt werden. Nicht ansatzweise war die Frau in der Lage, sich um ihr Kind zu kümmern. Tim kam in die Bereitschaftspflege, eine Art Krisenpflegefamilie, um in der ersten Lebensphase versorgt zu sein. Als sich aber zeigte, dass die Mutter das Kind nicht zurücknehmen könnte, vermittelte das Jugendamt eine Pflegefamilie. Erst nach mehr als zwei Jahren stellte sich heraus, dass man das Baby dort zumindest massiv vernachlässigt hatte, es unterernährt und unterentwickelt war. Raus aus der Familie, rein in die nächste Pflegefamilie, die bald gefunden wurde.
Und Tim hatte Glück. Das Ehepaar, selbst erfahrene Eltern von schon älteren Kindern, wollte dem Kind mit aller Macht ein gutes Leben ermöglichen. Zwei Jahre kämpfte es um den Jungen, versuchte seine offensichtlichen seelischen Verletzungen mit Hingabe und Herzenswärme zu heilen. Doch die Liebe allein stieß an Grenzen. Das war der Zeitpunkt, als sich Tims neue Familie Hilfe bei Ankerland und ihrem Leiter Andreas Krüger suchte.
Ankerland in Hamburg ist Deutschlands einziges tagesklinisches Angebot für schwer traumatisierte Kinder und Jugendliche, das sich zu 100 Prozent aus Spenden finanziert. Opfer von Vernachlässigung, körperlicher Gewalt oder Missbrauch erhalten hier eine intensivtherapeutische Behandlung, ihre Bezugspersonen – seien es Verwandte, Pflegeeltern oder Sozialpädagogen – Begleitung und Rat.
Vor allem die ganz Kleinen mit schwierigen Biografien hat Ankerland im Blick. Die Kinder hätten keinerlei bildhafte Erinnerung an das, was sie erlitten haben, erklärt Krüger. „Explizite Gedächtnisfunktionen“ seien erst ab ca. drei Jahren verfügbar. Doch gerade die bildhaft nicht erinnerlichen, sehr frühen Traumata hätten oftmals besonders schwere und lebenslange Auswirkungen auf die Opfer.
Wie behandelt man Kinder, die nicht erahnen, was sie im tiefsten Innern quält?
Krüger: „Das Unaussprechliche findet Ausdruck in Kunst-, Körper- und Musiktherapie. Unsere Patienten lernen in der sprachorientierten Therapie, ihre Empfindungen und ihr Verhalten zu verstehen und erlangen Handlungskompetenzen, die sie der eigenen Ohnmacht entgegensetzen können.“
Das braucht, neben guter Zusammenarbeit des beteiligten Hilfesystems, vor
allem Zeit. Anders als im kapazitär heillos überforderten System der klassischen
stationären Kinder-und Jugendpsychiatrie, die in der Regel nur Wochen bis Monate mit traumatisierten Kindern arbeiten kann, bekommen die kleinen Patienten bei Ankerland so lange Unterstützung, bis Trauma-Folgestörungen überwunden sind bzw. die Kinder sich zuverlässig im Alltag zurechtfinden. Im Schnitt dauere das drei bis fünf Jahre, so Krüger. Bei Tim waren es neun. „Aber dann war er im Leben angekommen.“
Hilfe für die vielen Namenlosen anderen Zeit, die Geld kostet. Viel Geld. 1,6 Millionen Euro müssen Andreas Krüger und sein Team derzeit jährlich einsammeln, um das Traumazentrum in Hamburg betreiben zu können. „Das lässt mich manchmal schlecht schlafen“, sagt Krüger. „Aber die Kinder sind jede Mühe und jeden Cent wert.“
